Ein Mann liegt im Marmor-Ecksaal des Kanzleramtes in Wien auf einem Diwan. Blut sickert aus zwei Wunden am Nacken und an der Achsel in das Sofa. Der Atem des Mannes geht stoßweise. Er ahnt, dass es zu Ende geht und bittet um einen Arzt und einen Priester. Beides wird ihm verweigert. Kurze Zeit später ist Engelbert Dollfuß tot.

An der Stelle, an der am 25. Juli 1934 Österreichs damaliger Bundeskanzler durch die Schüsse nationalsozialistischer Putschisten niedergestreckt wurde, ist heute in schlichten goldenen Buchstaben sein Name in den Boden eingraviert. Die Gedenkmesse, die seit den Sechzigerjahren in der Kapelle des Kanzleramtes um den Tag von Dollfuß' Ermordung auch unter sozialdemokratischen Regierungschefs jährlich gelesen wurde, wurde heuer abgesagt.

Die Schatten der Geschichte sind lang in Österreich. So lang, dass es selbst mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach den tragischen Ereignissen des Jahres 1934 über Engelbert Dollfuß keinen Konsens zwischen den politischen Lagern im Lande gibt.

Wer war der Mann, der als eine der umstrittensten Persönlichkeiten in der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt? War er der "Patriot" und "Märtyrer" im Kampf gegen Hitler, als den ihn die ÖVP in ihren Klubräumlichkeiten im Parlament unbeirrt mit einem Porträt ehrt? Oder ist er der "Faschist" und "Arbeitermörder", als den ihn viele Sozialdemokraten verdammen?

Täter und Opfer

Nun, wenn eines gewiss ist, dann das: Geschichte ist selten schwarz oder weiß. Die meiste Zeit mäandert sie jenseits der simplen Kategorisierung in Gut und Böse. Das gilt auch für den ermordeten Kanzler. Er eignet sich nicht für Überhöhungen, seien sie nun positiv oder negativ.

Sicher, Dollfuß ließ sein Leben im Kampf gegen den Nationalsozialismus, doch zugleich war es mangelnde Achtung vor der Demokratie, die mit zur Tragödie führte. Als Kanzler nützte der Christlichsoziale im März 1933 eine Krise des Parlaments, um die Demokratie zu beseitigen und ein autoritäres Regime zu errichten. Als im Februar 1934 der sozialdemokratische Schutzbund mit Waffengewalt gegen den Verfassungsbruch aufbegehrte, ließ Dollfuß den Aufstand blutig niederschlagen und nahm mit neun vollstreckten Todesurteilen unbarmherzig Rache. Wenige Monate später wurde er beim Juliputsch, mit dem Hitler Österreich in seine Gewalt bekommen wollte, selber zum Opfer.

"Dollfuß ist der einzige Regierungschef, der von den Nazis vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ermordet wurde", sagt der Grazer Historiker Dieter A. Binder. Sein großer Fehler sei es jedoch gewesen, mit aller Härte gegen eine ihrerseits nur wenig konsensbereite demokratische Linke in Österreich zu kämpfen und in ihr nicht einen Verbündeten gegen den eigentlichen Feind, die Nazis, zu sehen. Anstatt in seinem Kampf gegen Hitler innerhalb der Verfassung gegen die Nationalsozialisten vorzugehen, habe er diese glatt gebrochen, auf eine "Strategie des Machterhalts" gesetzt und den starken innenpolitischen Einfluss der von Italien unterstützten faschistischen Heimwehren in Kauf genommen.

"So waren die großen Sieger des Februar 1934 dann die Nationalsozialisten, die sich im Abseits gehalten hatten und nun vielfach von der Niederlage der Sozialdemokraten profitierten."

Frage an den Zeitgeschichtler: Wie kommt es, dass es bis heute nicht wirklich gelungen ist, zwischen Rot und Schwarz den Schutt der politischen Propaganda wegzuschaufeln und Dollfuß in seiner ganzen Widersprüchlichkeit als Täter zu sehen, der selbst zum Opfer wurde?

Traumatisierung

Binder: "Die schrecklichen Ereignisse des Feber 1934, die in ihrer Folge an Sozialdemokraten verübten Justizmorde sowie die Zerschlagung der Arbeiterbewegung haben bei der Linken zu einem Trauma geführt, das bis weit in die Zweite Republik nachgewirkt hat." Für viele ältere Sozialdemokraten, die die damalige Zeit erlebten, sei das 34er-Jahr prägender gewesen als der März 1938, als mit dem "Anschluss" Österreich ausgelöscht wurde.

Ganz anders die jüngere Generation. In entideologisierten Zeiten stelle Dollfuß für junge Sozialdemokraten in Wahrheit kaum mehr als ein "ideologisches Zitat" dar. "Er gibt ihnen die rare Gelegenheit, linke Textur zu zeigen", glaubt Binder. Die ÖVP wiederum biete mit dem sturen Festhalten am Dollfuß-Porträt im Parlamentsklub unnötig Raum für Missinterpretationen. Die Politik täte gut daran, diesen Missbrauch von Geschichte zu unterbinden, sagt Binder. Die Zeit wäre reif dafür.