Adolf Muschg, der große Schweizer Schriftsteller, ist in seinem achtzigsten Lebensjahr wieder in seine reformierte Kirche zurückgekehrt. Eingeladen, vor seiner alten und neuen Zürcher Gemeinde zu predigen, zitierte er kürzlich Goethe. „Kindlein, liebt euch“, habe der gesagt, „und wenn das nicht gehen will, lasst wenigstens einander gelten.“
Resignativ klingt das, wie ein Sich-Schicken in das Unerfreuliche, die Zerstrittenheit der Menschheit und der Christen. Minimalismus verträgt sich schlecht mit der Unbedingtheit, die man mit Religion verbindet. Einander gelten lassen scheint wenig und ist doch eine Kulturleistung, eine größere vielleicht und jedenfalls anstrengender durchzuhalten als der Eifer unbedingten Glaubens. Es setzt ein starkes Selbstbewusstsein voraus und tiefe Gelassenheit.