Für jede Alltagsnische gibt es mittlerweile ein Fachhochschulstudium, für jedes Produkt eine mehrsprachige Bedienungsanleitungs-App, für das Halten von Hunden einen Führerschein. Nur für die Kindererziehung gibt es keine Eltern-Ausbildung und -Anleitung. Ist das nicht hoch fahrlässig?

Gerald Hüther: Was gute Eltern auszeichnet, ist nicht, dass sie möglichst viel über Kinder wissen, sondern dass sie eine Haltung ihrem Kind gegenüber haben, die ihm das Gefühl vermittelt, dass es bedingungslos geliebt wird. Und bedingungslose Liebe heißt, dass das Kind in seiner Subjekthaftigkeit angenommen wird. Das fällt uns gegenwärtig sehr schwer.

Warum?

Weil wir uns die Ideale aus dem Wirtschaftsleben derart zu eigen gemacht haben, dass wir sie schon in das Familienleben hineinverwirklichen. Wir glauben, dass Kinder keine Leistung vollbringen, wenn man sie nicht antreibt. Wer aber jemals einen kleinen Buben beobachtet hat, wie er einen Turm baut, der hat erlebt, dass dieser Bub niemals einen mittelmäßig hohen Turm bauen will, sondern immer den höchsten. Die Bereitschaft, alles perfekt und als Höchstleistung zu bestreiten, ist in den Kindern angelegt. Sie geht aber kaputt, wenn man sie nicht lässt, sondern ihnen dauernd sagt, was sie zu leisten haben.

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Die Freude am Entdecken als Opfer der Erziehung?

Ja, denn so wird die intrinsische Lernlust der Kinder erstickt. Kinder kommen ja als Gestalter ihres eigenen Lernprozesses auf die Welt. Krabbeln, Gehen, Greifen, Sprechen: Von Beginn an lernen sie das Entscheidende von sich selbst heraus. Im Alter von drei bis vier Jahren müssen sie aber bemerken, dass sich nicht mehr alle uneingeschränkt darüber freuen, was sie da entdecken und gestalten. Immer mehr Leute machen ihnen mehr oder weniger deutlich, dass sie nur dann geliebt werden und Anerkennung bekommen, wenn sie sich mit dem beschäftigen, was die betreffenden Personen für wichtig halten.

Wie reagiert das Kind?

Mit Anpassung. Es versucht nur noch, die Vorstellungen der Eltern oder später der Lehrer zu erfüllen. Kinder, die das tun, lernen nicht mehr um des Lernens willen, sondern um Anerkennung und Bedeutsamkeit zu erlangen. So werden die Kinder zu Objekten der Absichten, der Ziele und Bewertungen der Erwachsenen.

Was sollten Eltern tun?

Sie könnten zum Beispiel eine andere Grundhaltung entwickeln und sich nicht als Former, sondern Suchende sehen, die bei ihren Kindern zu entdecken versuchen, was aus ihnen rauswill. Da sitzt man dann viel öfter neben dem Kind, beobachtet und lernt es viel besser kennen. Man merkt, worauf es anspringt, wofür es sich interessiert, wo die Talente und Begabungen stecken und auf welche Art es versucht, diese angeborenen Interessen auch zu verwirklichen.

Indem es beispielsweise Fragen stellt.

Das wäre großartig. Als Eltern geht einem dieses ständige Fragen, dieses „Warum, warum ist die Banane krumm?“ ja auf die Nerven. Aber Kinder erschließen sich das Wissen der Welt durch Fragen und nicht durch Belehrungen. Deshalb sollte man versuchen, das Kind ständig in einem Fragemodus zu halten. Ihm also nicht dauernd alles erklären, sondern es in eine Situation bringen, wo es fragt – und immer weiterfragt. Deshalb ist es so wichtig und geschickt, so wenig Antworten und so viel Ermutigung wie nur irgendwie möglich zu geben, es selbst herausfinden zu wollen.

Aber es braucht doch einen Rahmen, innerhalb dessen sich die Kinder entwickeln können, oder? Wie eng gespannt oder lose soll der sein?

Entweder wir peitschen sie oder wir lassen sie frei laufen – dieses Denken ist bezeichnend für die meisten Eltern und diejenigen, die im Bildungsbereich unterwegs sind. Beides ist falsch. Vielmehr geht es darum, dass die Erwachsenen die Erziehungsverantwortung übernehmen, die sie nun einmal haben, weil sie eben erwachsen sind und sich im Leben auskennen und nicht wollen, dass das Kind dieselben negativen Erfahrungen macht, die sie auch schon gemacht haben.

Es braucht also Regeln.

Es geht darum, dem Kind zu helfen, eine Struktur für seinen Alltag zu entwickeln und sich nicht in Tätigkeiten zu verlieren, von denen die Erwachsenen wissen, dass sie nicht günstig sind. Das bedeutet auch, dass sie dem Kind deutlich machen, dass sie bestimmte Dinge nicht wollen. Wenn man seine Kinder wirklich ernst nimmt, dann reicht es nicht, ihnen einfach etwas zu verbieten. Dann muss man ihnen das in einer Art und Weise erklären, die sie verstehen. Das sind keine Dressurmaßnahmen wie im Zirkus, sondern Regeln, an die sich alle halten – natürlich auch die Erwachsenen. Es geht nicht, dass man den Kindern das Fernsehen verbietet und dann jeden Tag selbst davorsitzt.

Das Kind wird das aber trotzdem als Einschränkung und nicht als Liebesbeweis wahrnehmen.

Digitale Medien sind normalerweise ja Werkzeuge wie Hammer und Schraubenzieher. Gegen deren Nutzung durch Kinder ist ja im Grunde auch nichts einzuwenden, solange sie wie Werkzeuge gebraucht werden, besteht auch keine Gefahr.

Wann wird es bedenklich?

Wenn sie als Instrumente zur Affektregulation verwendet werden – also um Frust loszuwerden, um Langeweile abzubauen oder um einfach nur so rumzuballern, um sich selbst zu fühlen, als wäre man der Größte.

Abseits der Eltern gibt es aber auch noch den Freundeskreis als Referenzrahmen für das eigene Verhalten. In ihren Peergroups können Jugendliche ja erst wieder verleitet werden, Dinge zu machen, die ihnen nicht guttun und ihnen ihre Zukunft verbauen.

Da kann man den Eltern nur sagen: Achtet darauf, mit wem euer Kind zusammenkommt. Überlasst das nicht dem Zufall.

Wie soll das funktionieren?

Indem man zum Beispiel Elterngruppen bildet, die gemeinsam mit den Kindern wandern, fischen oder spielen gehen. Das hat zur Folge, dass sich ein Freundeskreis bildet, in denen das, was den Eltern wichtig ist, auch passiert. Kindererziehung ist nämlich keine Individualangelegenheit von einem Elternteil oder einem Elternpaar. Für Kinder ist die ganze Nachbarschaftsgemeinschaft verantwortlich. Nicht zufällig gibt es das afrikanische Sprichwort: "Um Kinder gut groß zu ziehen, braucht man ein ganzes Dorf."

In unserer Gesellschaft verschwinden die Dörfer beziehungsweise Großfamilien aber. Es gibt immer mehr Alleinerzieher, meist Mütter.

Als alleinerziehende Mutter sollte man versuchen, in seinem Bekanntenkreis Männer zu finden, die sich auch einmal um die Kinder kümmern, damit sie auch eine männliche Erlebniswelt kennenlernen. Man sollte versuchen, in der Nachbarschaft ältere Personen zu finden, die gerne bereit sind oder sich vielleicht sogar darüber freuen, so etwas wie eine Großeltern-Patenschaft für das Kind zu übernehmen. Auf diese Weise kann man das, was in unseren Familien zerfallen ist, auf eine andere Weise wieder neu aufleben lassen. Sich gegenseitig ermutigen können, Bündnisse zu schmieden – das ist alles Neuland.

Das klingt verlockend – aber auch naiv, wenn man sich den Trend zur individuellen Verkapselung ansieht.

Junge Eltern sind da schon viel offener für einen Austausch und für die Vorstellung, dass es möglicherweise bei der Erziehung ihrer Kinder auf etwas anderes ankommt als auf das, was sie bisher für richtig gehalten haben. Was uns an einem großflächigeren Erfahrungsaustausch hindert, ist der Umstand, dass in unseren Köpfen noch viel zu stark der Gedanke herumschwirrt, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist, dass Eltern sich daher immer nur um ihr Kind kümmern. Das ist zwar löblich. Aber es verhindert, dass sie sich gemeinsam mit anderen Eltern auf den Weg machen und so Dinge erreichen, die man heute noch für unmöglich hält.

Kann man sich auf die Zukunft in einer Zeit, die sich derart rasant ändert, überhaupt vorbereiten?

Es stimmt, dass wir in einer dramatischen gesellschaftlichen Umbruchsituation leben. In zwanzig Jahren wird es ein Drittel der Berufe von heute nicht mehr geben. Unsere Kinder werden für eine Welt ausgebildet, von der wir gar nicht wissen, wie sie überhaupt aussieht. Deshalb braucht es Menschen, die die Lust am Lernen nicht verlieren. Wir können nur überleben, wenn wir eine Jugend haben, die Lust aufs Leben hat.

Diese Lust wird in der Pubertät auf ganz neue Art geweckt. Wie können Eltern und Kinder diese nicht ganz konfliktfreie Zeit "überstehen"?

Ich kenne als Hirnforscher die Befunde, die besagen, dass während der Pubertät das ganze Frontalhirn durcheinanderkommt. Aber wir sollten nicht die Frage stellen, wie durcheinander das Gehirn in der Pubertät ist, sondern was es den Kindern leichter macht, erwachsen zu werden.

Nämlich?

Für einen Jugendlichen ist es natürlich schwieriger, erwachsen werden zu wollen, wenn die Erwachsenen selbst ständig über den Zustand des Erwachsenseins klagen, über die Verantwortung meckern, die sie als Erwachsener haben, und versuchen, Kinder oder zumindest so jung wie möglich zu bleiben. Logisch, dass es so für einen Heranwachsenden äußerst unangenehm und unattraktiv wird, selbst erwachsen zu werden. Wenn eine Gesellschaft so beschaffen ist, dass das Erwachsensein keinen attraktiven Wert mehr besitzt, ...

... dann wird es immer schwieriger mit der Pubertät.

Ja, aber sie ist kein Schicksal. Die Art und Weise, wie ein Kind die Pubertät und die Konflikte erlebt, hängt davon ab, wie gut es den Eltern gelingt, ihm das Gefühl zu geben, dass es toll ist, erwachsen zu werden. Und wie gut es ihnen schon vor der Pubertät gelingt, den Kindern zu vermitteln, dass es um seiner selbst willen geliebt wird und seiner selbst willen – als Subjekt – bedeutsam ist. Die Pubertät ist ja das letzte Aufbäumen eines Kindes, sich damit abzufinden, dass es einfach nur noch funktionieren soll. Kinder, die das gar nicht nötig haben, weil sie in ihrem Elternhaus, in der Schule und bei ihren Freunden sich als jemand erlebt haben, der in seiner Einzigartigkeit gesehen und anerkannt wird und Bedeutung besitzt, sich also nie als Objekt von Vorstellungen, Wünsche, Bewertungen und Maßnahmen anderer erlebt haben, solche Kinder haben keine schwierige Pubertät.

Und auch das Loslassen leichter ist, weil man sich sicher sein kann, dass da ein starkes Wesen neben mir heranwächst?

Ja, weil das Loslassen schon vom ersten Tag an geübt wird, weil man das Kind nie als seinen Besitz betrachtet hat, den man erziehen muss, sondern immer davon ausgegangen ist, dass dieses Kind ein Geschenk ist, das einem anvertraut worden ist und das man begleiten darf.

Auspacken muss man das Geschenk nur richtig.

Anders: Sie müssen dem Kind Gelegenheit geben und ihm helfen, sich selbst auszupacken.

Wenn Sie sagen, die Eltern sollen sich selbst und ihre Erwachsenensituation schätzen, dann widerspricht das einem Wesenszug, den man als typisch österreichisch apostrophiert: dem Nörgeln und Raunzen über das, was ist. Merken Sie einen Unterschied zwischen österreichischen und deutschen Eltern?