Im Rahmen des diesjährigen musikalischen Sommerprogramms im Schloss Versailles brachten Sie Musik aus der Zeit des „spanischen Sonnenkönigs“ Philipp V. zur Aufführung. Bei den kommenden Konzerten in Graz und in Salzburg sind die Musikthemen Orient, Okzident und Orthodoxie. Das liest sich aktuell und gesellschaftspolitisch orientiert. Was für eine Rolle weisen Sie der Musik zu?
JORDI SAVALL: Für mich hat die Musik immer eine Funktion. Zum einen hat Musik vor allen anderen kulturellen Aktivitäten die stärkste geistliche Dimension. Und diese Dimension wird ohne viel Mühe erreicht: Jedes Mal, wenn Musik gehört wird, passiert es, dass die Zuhörer auf eine andere, von der irdischen zu unterscheidende Ebene gehoben werden. Zum anderen gibt Musik Kraft und löst Emotionen aus. Wenn dies geschieht, können Menschen bewogen werden, über Dinge anders zu sprechen oder zu denken, als sie es davor getan hätten. Und schlussendlich kann Musik Momente aus früheren Epochen gedanklich auffrischen, Momente, die auch von Konflikten und Problemen geprägt waren und die wir schlichtweg vergessen haben. In anderen Worten: Musik soll zum Nachdenken anregen. Sie hilft uns, eine bessere Position in unserem Leben zu finden.
Der israelisch-französische Historiker Élie Barnavie meint, dass das Europa von heute keine Seele habe und der Okzident nur das sei, was die christliche Gesellschaft daraus gemacht habe. Produziert Musik nicht auch ein verfälschtes Bild vom Fremden, dem Anderen? Immerhin heißt das Programm der styriarte 2016 „Viva la libertà“ - eine einseitige, westeuropäisch-christliche Sicht?
SAVALL: Ich sehe das völlig anders. Sicher: Wir sind heute ohne Zweifel in einer Situation, in der wir die wichtigsten Fundamente unserer Zivilisation aus den Augen verloren haben. Ja wir haben das aller Wichtigste vergessen: uns, den Menschen selbst. Der Mensch ist das Zentrum einer jeden Zivilisation, was aber zur Zeit nicht der Fall ist. An die Stelle des Menschen ist Macht und Politik gerückt. Wir, die Menschen, sind in dieser Konstellation Störfaktoren geworden. Daher finde ich, dass die Thematik „Viva la libertà“ der styriarte sehr gut gewählt ist. Hier geht es doch darum, dass wir zum Nachdenken angeregt werden sollen. Was bedeutet Freiheit? Sind wir heute wirklich frei? Ich meine nicht. Und ich denke, dass ein musikalisches Programm über die Sklaverei, wie wir es in Graz machen werden, eine gute Reaktion auf die Frage nach der Freiheit ist.
Die Marke beziehungsweise das Produkt Savall ist stimmig. Ihre Konzerte sind sehr gut besucht, vielfach ausverkauft, und Ihre Aufnahmen, die Sie weiterhin vorwiegend auf CD auf Ihrem eigenen Label Alia Vox anbieten, finden zu ihren Liebhabern. Das ist eine große Leistung, insbesondere bei den heutigen Bedingungen des Musikgeschäfts. Inwiefern ist es heutzutage noch möglich, mit dem Thema historischer Aufführungspraxis in der Kulturszene seinen eigenen Platz zu beanspruchen? Es sind doch gerade in den letzten Jahren sehr viele Ensembles, die Ähnliches machen wie Sie, auf den Markt gekommen. Wo liegt das Geheimrezept?
SAVALL: Dass es viele Ensembles gibt, die in eine ähnliche Richtung gehen, wie wir es tun, sehe ich als normal an. Die Musik selbst verweist auf eine konstante Entwicklung und bereichert immer wieder neu. Und solange es Menschen gibt, die kunstfähig sind, Menschen, die gerne kreativ sind, die sich gerne musikalisch mitteilen, solange wird es immer wieder neue Ensembles geben. Das ist wie mit einem Lebenszyklus. Wir, auch ich und meine Musiker, sind endlich. Jetzt ist vor Kurzem Nikolaus Harnoncourt von uns gegangen, 2012 starb Gustav Leonhardt. Natürlich muss Platz für neue Generationen da sein. Niemand in unserem Metier hat die absolute Wahrheit gepachtet, nichts ist definitiv. Viel wichtiger aber ist Authentizität. Hier geht es allerdings nicht um eine Authentizität bezüglich historischer Aufführungspraxis, bei der versucht wird, den Stil der Epoche genauestens wiederzugeben. Ich meine vielmehr die Authentizität des Musikers selbst, die er wiedergibt, wenn er sich auf die Tiefendimension in der Musik einlässt. Erst dann ist es möglich, ohne Grenzen zu spielen, zu interpretieren, und erst dann bekommt Musik selbst ihre Freiheit und ihre Sinnlichkeit. Das Ziel ist, dass der Interpret und das zu interpretierende Werk zu einer Einheit werden. Manche junge Musiker von heute verstehen das nicht. Den Grund für dieses Missverständnis sehe ich darin, dass wir einen viel zu schnellen Lebensrhythmus haben. Wenn heute ein Musikstudent nach seinem Diplom nicht gleich eine Aufnahme machen kann, fühlt er sich schon erfolglos. Ich habe vor dem Gambenspiel neun Jahre professionellen Cellounterricht gehabt und habe danach erst einmal zehn Jahre musiziert, bis ich meine erste Aufnahme gemacht habe. Alles braucht seine Zeit und gerade Kunst kann nicht programmiert werden. Und damit sind wir wieder bei Authentizität: nie etwas tun, was man selbst nicht vertreten oder verteidigen kann. Es muss zu der erwähnten Einheit kommen. So war es auch mit dem „Sklavenprogramm“, das wir in Graz machen. An diesem Programm arbeite ich seit rund sechs Jahren. Dazu gehört Forschung, dazu gehört auch Experimentieren, bis es soweit ist. Jetzt, in Graz, kommt alles zusammen: ich habe für die Aufführung die richtigen Leute und die richtigen Stücke – es passt alles, hat Aussagekraft und Bedeutung. Auch für das Programm für die Salzburger Festspiele, in dem wir das Orthodoxe mit dem Orient und diesen mit Venedig in Verbindung bringen, arbeite ich seit ein paar Jahren. Und genau das ist es, was spannend ist: Kreativ und musikalisch Geschichtslinien aufzeigen, etwas, was mir selbst auf dem heutigen Musikmarkt fehlt. Viele hängen permanent an den sich wiederholenden Programmen, man spielt – mit verschiedenen Orchestern – immer wieder die gleichen Sinfonien, wobei damit in Vergessenheit geraten ist, mit welchen anderen Mitteln ein Musikabend gestaltet werden kann. Musik ist dazu da, um eine Geschichte zu erzählen, nicht um l'art pour l'art zu machen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir heutzutage wieder die Verbindung von Musik und Geschichte brauchen.
Österreich investiert stets viel Geld in musikalische Erziehung. Wie sieht es in den südlichen Regionen Europas aus? Lohnt es sich denn überhaupt noch, Geiger oder Querflötistin zu werden?
SAVALL: Meines Erachtens ist und bleibt die Musik eine der wichtigsten Sprachen der Menschheit. Darüber hinaus spielt Musik in der Erziehung eine maßgebende Rolle. Ich meine, dass wir in den südlichen Ländern für junge Menschen zu wenig Platz für Musikerziehung haben. Wenn ein Kind auf Musik anspricht, dann entwickelt sich dies in den ersten zehn Lebensjahren. Wenn wir in dieser Phase das Kind fördern, wird es immer an der Musik seine Freude haben und mit ihr durch das Leben gehen. Und wenn die jungen Leute Musik studieren möchten, dann sollte man sie darin unterstützen. Mit Musik im Leben wird immer eine bessere Lebensqualität erreicht. Wenn alle Menschen Musik machen würde, wäre die Welt um einiges besser.
Sie feiern Anfang August Ihren 75er. Welche Wünsche haben Sie an sich selbst, an die Musik, an die Welt?
SAVALL: Ich wünsche mir für mich selbst, dass ich in meinen mir noch verbleibenden Lebensjahren weiterhin meine Kapazitäten für die Musik einsetzen kann, und dass ich weiterhin denken und Zusammenhänge erkennen und verstehen kann . . .
. . .Sie gehen also nicht in Ruhestand.
SAVALL: . . . Ruhestand ist ein komisches Wort für einen Musiker (lacht). Natürlich nehme ich mir Auszeiten und Zeit für mein Privatleben, aber ohne Musik könnte ich nicht leben: es ist meine Hauptnahrung. Ohne Musik wäre ich schon lange gestorben. Ich lebe jeden Tag intensiv, so, als ob es mein letzter Tag wäre. Andererseits kaufe ich mir immer noch viele Bücher und studiere, wie man noch tausend Jahre leben könnte. Aber: Das ist das Leben – nicht jeden Tag an das Ende denken, aber darauf vorbereitet sein, dass es ein Ende hat. Für die Welt wünsche ich mir, dass wir als Menschen mehr Verantwortung zeigen. Die Welt braucht jede möglich Kraft, von jedem Menschen. Wir Menschen müssen viel mehr agieren und Dinge ablehnen, die wir nicht akzeptieren wollen. Wir müssen einfach mehr reagieren, als wir es derzeit tun. Denn eines sollten wir erkennen: Unsere Zivilisation ist am Ende eines Zyklus angelangt, und es liegt an uns, in unserer Familie, in unserem Dorf, in unserem Haus, egal wo, etwas zu tun, damit die Welt besser wird, als sie gegenwärtig ist.
INTERVIEW: SVEN JOHANN KOBLISCHEK