Joseph Beers „Polnische Hochzeit“ war 1937 bei der Uraufführung an der Züricher Oper ein durchschlagender Erfolg. Aber kein nachhaltiger, denn der ukrainische Jude musste vor den Nazis aus Wien nach Frankreich flüchten, und nach dem Krieg verweigerte er jegliche Aufführungsrechte. Seine Familie gab diese 2011 endlich frei, und so kam es Anfang Dezember zur Grazer Erstaufführung seiner üppigen Melange aus Operette und Musical, Mazurka und Walzer, Klezmer und Jazz, Sauflied und Gstanzl und mehr.
Ja, die Liebe ist ein Labyrinth. Auch auf der Hochzeit des Jahres, die hier gefeiert werden soll, denn bevor „Herz an Herz, Hand in Hand" die Welt zum Märchenland wird, wie es in einem Lied heißt, müssen erst Irrungen und Wirrungen überwunden werden, für die Fritz Löhner-Beda und Alfred Grünwald das Libretto geliefert hatten – voll Erotical Incorrectness, aber in den 1930ern gab es halt noch keine #MeToo-Debatte.
Boleslav, der polnische Graf und Freiheitskämpfer gegen die Zarentruppen, kehrt als Knecht verkleidet heimlich in seine Heimat zurück, um seine Jugendliebe Jadja zu heiraten. Er muss sich aber erst mithilfe einer reschen Gutsverwalterin gegen seinen hinterhältigen Onkel zur Wehr setzen, der ihm sowohl die Braut als auch sein rechtmäßiges Erbe streitig macht.
Für die Grazer Produktion haben alle ins Volle gegriffen: Martin Miotk stellt einen Riesengeschenkskorb ins Bühnenzentrum, der später auch als Liebesnest, Showtreppe oder Altarraum dienen wird. Andy Besuch durfte sich austoben: Chor und Ballett, beide bestens disponiert, lässt er als köstliche Holzfiguren antanzen, steckt sie aber auch in grelle Rüschenkleider oder ballonbusige Dolly-Parton-Kostüme und stattet die Solisten mit Eleganz vom Trachtenkleid über eine Burlesque-Robe bis zur Gardeuniform aus.
Sebastian Ritschel weiß mit der turbulenten Verwechslungskomödie bestens und – mithilfe der flotten Choreographien von Simon Eichenberger – auch sehr musikalisch umzugehen. Selbst wenn, wie so oft in der Liebe, Tohu und Wabohu regieren: Der deutsche Regisseur verliert den Faden nie in der auf ein Happy End zusteuernden Geschichte und hat für das Paradebeispiel einer leichten Muse auch stille Momente übrig.
Prallvolle Partitur
Dem aus der Ukraine gebürtigen und in Wien ausgebildeten Joseph Beer gelang es, selbst in immer dunkler schattierten Zeiten ein hell funkelndes Theaterjuwel zu schaffen. Ob die naive Ausgelassenheit und Glückseligkeit im Werk des damals erst 29-Jährigen dem puren Eskapismus dienten oder ein bewusstes letztes Aufbäumen gegen den heraufdräuenden Weltuntergang waren, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Aber seine Partitur strotzt jedenfalls vor Sentimentalität und Zuckersüße, vor melodischen Ideen, rhythmischen Kniffen und ungewöhnlichen Instrumentierungen und erinnert an Werke Emmerich Kálmáns, ohne epigonisch zu sein.
Marius Burkert durchmisst mit den Grazer Philharmonikern den Hybrid aus Operette und Musical, in dem sogar augenzwinkernde Zitate etwa aus Beethovens "Fidelio" auftauchen, zunehmend gestaltungsfreudiger und nicht nur an der Oberfläche. So wird einerseits im sehnsuchtsvollen Lied der Jadja, „Leise klingt ein Lied aus meiner Seele“, aus dem Graben der tiefgängigen Melancholie genug Raum gegeben. Andererseits klingt der Hit des Dreiakters - "Katzenaugen" - so broadwayesk, dass man im Stammbaum des Komponisten von "Cats" nachträglich nachschauen möchte, ob er nicht womöglich doch Andrew Lloyd Webeer heißt.
Sängerisch herausragend ist der ungarische Tenor Szabolcs Brickner als Boleslav, der sich zunächst zum dienerischen Tölpel machen muss, um seiner Angebeteten Jadja heimlich nahe sein zu können und sie doch noch heiraten zu dürfen. Diese wird von Katarina Melnikova mit leichtem Sopran gespielt. Der steirische Bass Markus Butter gibt Boleslavs Onkel Staschek souverän den so trinkfreudigen wie notgeilen Bock, der selbst nach fünf Hochzeiten und ebenso vielen Scheidungen immer noch glaubt, die "verflixten Adamsrippenstücke" seien schuld an seinem Los. Wer (und wie man) wirklich die Hosen anhat, zeigt Suza, "die Wildkatze", mit Krallen im Ton und Haaren auf den Zähnen – sie wird von Mareike Jankowski als donnerwetternde Domina dargestellt. Josef Forstner als gaudewipfelnder Vater Jadjas, Ivan Oreščanin als Träumer Casimir und der Rest ergänzen das durchwegs gut besetzte Ensemble.
Frisch, frech, frivol: Die Grazer Oper hat mit der "Polnischen Hochzeit" auf eine Rarität gesetzt. Und mit dem groß bestellten Aufgebot an Musik, Regie, Choregraphie und Ausstattung – das lässt sich nach der gefeierten Premiere unschwer prophezeien - gewonnen.
Zum Werk und zum Komponisten
Sein Vater? In Auschwitz ermordet. Seine Schwester? In Auschwitz ermordet. Sein Librettist Fritz Löhner-Beda? In Auschwitz ermordet. 1943 wacht Joseph Beer in einem seiner Verstecke in Frankreich schweißgebadet aus einem Albtraum auf, in dem seine Mutter zu ihm sprach. Nach dem Krieg musste er erfahren: Auch sie, genau an diesem Tag, in Auschwitz ermordet...
Kein Wunder, dass der Komponist sich von diesen Traumata nie mehr wirklich erholte. Zwar hatte der Exilant noch die Kraft gehabt, unter dem Decknamen Jean-Joseph Bérard in Paris und Nizza ohne Hilfe eines Klaviers diverse Orchesterstücke oder seine Commedia dell’Arte-Oper „Stradella in Venedig“ zu schreiben, eine Hommage an den italienischen Barockkomponisten. Aber Beer lehnte nach dem Ende der Kriegswirren etliche Aufträge und Posten ab, verweigerte die Aufführungsrechte an seinen früheren Werken und lebte mit seiner Frau Hanna und den Töchtern Suzanne und Béatrice zurückgezogen vom Glanz der Bühnen an der Côte d’Azur. Bis zu seinem Tod 1987 allerdings sollte der gebürtige Ukrainer in seiner zweiten Heimat an der Neufassung seines Paradestücks weiterfeilen, dem die Nazis einen braunen Riegel vorgeschoben hatten.
Mit der „Polnischen Hochzeit“ hatte der in Wien ausgebildete Beer, Anfang der 30er-Jahre zu einem Senkrechtstarter der Operettenwelt geworden, eine echte Theaterperle vorgelegt. Das hell funkelnde Werk mit seinen frechen Einsprengseln von Folklore, Klezmer und Jazz à la Broadway wurde bei der Uraufführung 1937 in Zürich umjubelt, gleich danach in acht Sprachen übersetzt und auf 40 Bühnen gespielt.
Aber der Bannstrahl der Hakenkreuzler traf auch den Juden aus Gródek bei Lemberg. Die anlaufenden Proben zur Österreich-Premiere mit Richard Tauber 1938 im Theater an der Wien wurde nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten ebenso verhindert wie später die französische Erstaufführung mit Jan Kiepura und Marta Eggerth am Théâtre du Châtelet in Paris. So blieb der übermütigen Verwechslungskomödie ein nachhaltiger Erfolg verwehrt – außer in Skandinavien, wo man sie bis 1982 ohne Einverständnis Beers als „Masurkka“ liebend gern auf den Spielplan setzte.
Erst vor sieben Jahren stimmten Beers Töchter der österreichischen Erstaufführung der „Polnischen Hochzeit“ zu, sie erklang beim Wiener Operettensommer 2012. Und seit der Premiere am 8. Dezember ist sie nun das allerste Mal in Graz zu erleben. Wer diese Rarität hier versäumen sollte: Im März und April ist der lebenslustige Dreiakter auch am Linzer Landestheater zu sehen. Und Ulf Schirmer gelang mit dem Münchner Rundfunkorchester und sehr guten Solisten (darunter der steirische Bariton Mathias Hausmann, in Graz nun alternierend mit Markus Butter zu hören), 2015 beim Label cpo eine Referenzaufnahme.
Bei der Premiere der Operette „Polnische Hochzeit“ war auch eine der beiden Töchter des Komponisten, Suzanne Beer, dabei. Die Künstlerin und Philosophin kam extra von Nizza nach Graz. Sie war sichtlich bewegt, das Werk ihres Vaters nach so langer Zeit eigentlich das erste Mal auf einer Bühne zu erleben und bedankte sich beim gesamten Team.
Michael Tschida