Als Robert Musil am 15. April 1942 an einem Gehirnschlag starb, war zwar sein Leben, nicht aber sein Werk beendet. Sein labyrinthisch verzweigtes Monumentalwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“ (MoE), an dem er seit 1926 geschrieben hatte, blieb ein Riesentorso – unvollendet, trotz dreier zu Lebzeiten erschienener Teile und eines Tausende Seiten umfassenden Nachlasses. Daraus wird ersichtlich, wie unschlüssig sich Musil über das Ende seines Werks war, wie sehr er es selbst im Schreiben immer wieder hinausschob. Nicht nur in den Entsprechungen zu Musils Leben sondern auch in dieser Zögerlichkeit finden sich durchaus Parallelen zu seiner Hauptfigur Ulrich, dem „Mann ohne Eigenschaften“, der sich immer wieder Festlegungen entzieht, um sich alle Möglichkeiten offen zu halten.

Eine Analyse, die auch in der Gegenwart Bestand hat

Dabei ist der Inhalt seines Hauptwerkes gar nicht so wichtig: Ulrich ist ein 32-jähriger Intellektueller, der sich über die Ausrichtung seines zukünftigen Lebens unschlüssig ist und schließlich bei den Planungen zur sogenanten „Parallelaktion“ mitmacht, einer Jubiläumsfeier für Kaiser Franz Joseph, die zeitgleich mit jener Kaiser Wilhelms II stattfinden soll. Als weitere Handelsstränge gibt es noch die Geschichte der geisteskranken Clarisse, die mit dem erfolglosen Künstler Walter verheiratet ist, und Ulrichs inzestuös gefärbte Beziehung zu seiner Schwester Agathe. Das alles findet vor dem Hintergrund der untergehenden k. u. k. Monarchie statt, die in dem Monumentalwerk als „Kakanien“ verewigt wurde. Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges, der bei Entstehen des Werkes ja bereits Vergangenheit war, analysiert Musil Gesellschaft und Kultur der Donaumonarchie – eine Analyse, die auch auf die Gegenwart (Stichwort EU) anzuwenden ist, wie so mancher Musil-Forscher anmerkt.


„Musil hat auch heute viel zu sagen“, meint etwa Walter Fanta, Germanist an der Uni Klagenfurt und seit Jahren mit der Aufarbeitung und Digitalisierung des Nachlasses befasst. „Er war ein Seismograph, der künftige Entwicklungen vorhergesehen hat, inklusive der schmerzhaften Geburtswehen einer modernen Gesellschaft.“
Was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hellsichtige Analyse war, „lebt und blüht heute in vielen außereuropäischen Staaten“, erläutert der Wissenschaftler und verweist auf die Übersetzungen des MoE in 60 Sprachen. Wie Musil die Modernisierung Europas beschrieb, wird heute „zeitverschoben aber mehr denn je“ auf der ganzen Welt gelesen. Prominente Leser gab es immer schon: Von Thomas Mann und Albert Einstein, die Musil einst die Emigration in die USA ermöglichen wollten (was nie geschah), über Gabriel García Márquez bis zu Bruno Kreisky reicht eine endlose Liste von Musil-Fans. Doch so wie der „Ulysses“ von James Joyce oder Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zählt auch Musils Opus magnum zu jenen Klassikern der Weltliteratur, die oft verschämt als „nicht zu Ende gelesen“ genannt werden.

Tipps für Musil-Einsteiger

Doch wie soll man Musil lesen? Der Musil-Biograph Karl Corino tröstete einmal: „Es ist besser, bei Musil stecken zu bleiben, als zehn deutsche Romane der Gegenwart zu Ende zu lesen“. Und Walter Fanta, der erzählt, dass Musil überlegt hatte, seinen Roman als Sammlung von Aphorismen herauszugeben, rät: „Als Einstieg in das Gesamtwerk empfehle ich „Drei Frauen“ und „Nachlass zu Lebzeiten“. Beim MoE würde ich mit der Ulrich-Agathe-Geschichte im dritten Band der neuen Ausgabe beginnen; da fängt der Roman quasi neu an.“
Wer neben dem Romantext an ergänzendem Material interessiert ist, sollte einmal einen Blick ins Internet-Portal „musilonline.at“ werfen, das unter der Leitung der Klagenfurter Musil-Instituts-Chefin Anke Bosse (gemeinsam mit Walter Fanta und Artur Boelderl) Gestalt annimmt: In Verbindung mit einer neuen, auf zwölf Bände ausgelegten gedruckten Gesamtausgabe (Jung und Jung) will das Portal wissenschaftliche Nutzung in zeitgemäßer Form für alle Werke und nachgelassenen Schriften Musils bieten.

In gedruckter Form liegen bisher drei Bände mit dem MoE vor, im Herbst folgt der vierte Band mit noch unpublizierten Druckfahnen und Kapiteln aus dem Nachlass. Der 1880 eher zufällig in Klagenfurt geborene Schriftsteller, dessen Vater Maschinenbau-Ingenieur war, lebte übrigens nur ein Jahr in Kärnten. Weitere Stationen seines Lebensweges waren Böhmen, Wien, Berlin und die Schweiz.

Forscher über Beziehung zwischen Mann und Frau

Herausgeber Walter Fanta sieht Robert Musil aber nicht nur als philosophischen Chronisten einer vergangenen Zeit, sondern auch als Forscher über die Beziehung zwischen Mann und Frau: „Am Ende geht’s um die Ehe“, erläutert er anhand der vorhandenen Schlusskapitel mit den „Gartengesprächen“ zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe. Die Utopie der Liebe so wie die Utopie einer idealen Gesellschaft denkt Musil vor der Folie des Katastrophalen – was sich quer durch sein Werk zieht.


Ein Werk, das nicht unwesentlich durch seine jüdische Frau Martha, „die mütterliche Frau an seiner Seite“ (Fanta), ermöglicht wurde. Sie war es, die nach dem Tod ihres Mannes einen weiteren Teil seiner Schriften herausgab, die seine Unfähigkeit in praktischen Dingen abfing, die für das oft am Existenzminimum lebende Paar immer wieder Geld auftrieb und mit der Robert Musil 1939 nach Genf zog, wo er schließlich 61-jährig verbittert starb.