Eine wichtige Wirkung zeitigt die Lektüre dieses bravourösen Ritts durch mehr als ein Jahrhundert ganz gewiss: Die Behauptung, man habe, unterwegs zu irgend einem Ziel, Zeit verloren, erscheint in einem völlig anderen Licht. Aber der Reihe nach, soweit das bei so vielen Handlungsfäden, die der österreichisch-amerikanische Autor John Wray jedoch stets raffiniert und sicher in Händen hat, überhaupt möglich ist.

Der Protagonist ist nicht nur verbannt in ein vergammeltes, durch Müll, verstaubte Akten und Aufzeichnungen fast unzugängliches Wohnlabyrinth in Manhattan, er ist auch gefangen in einer Zeitkapsel, aus der es kein Entkommen gibt. Das immerhin gibt ihm genug Raum, um in langen Briefen an die Ex-Geliebte die Geschichte seiner Familie zu rekonstruieren, die in der k. u. K.-Zeit in Znaim beginnt. Dort hegt und pflegt der Urgroßvater, hauptberuflich Gurkenfabrikant, eine heimliche Leidenschaft: Er will dem Rätsel der Zeit und der damit verbundenen Möglichkeit der Zeitreise auf die Schliche kommen.

Dumm nur, dass er sich zur falschen Zeit am falschen Ort befindet und von einem Auto überfahren wird, noch dümmer, dass ein stets geringschätzig Patentamtsangestellter genannter Physiker und Mathematiker namens Einstein die Relativitätstheorie veröffentlicht und damit nicht nur die Welt der Wissenschaft auf den Kopf stellt. Fortan beherrscht den Clan der Toulas, die sich nach ihrer Auswanderung in die USA Tolliver nennen, die Obsession, das geheimnisvolle Werk ihres Vorfahren zu vollenden.

John Wray, der sieben Jahre an seinem Roman arbeitete, gelingt es, die weiteren Geschehnisse in ein prächtiges, obskures, zuweilen auch gespenstisches Panoptikum des 20. und frühen 21. Jahrhunderts zu verwandeln. Faszinierend ist sein Gespür für Lokalkolorit und für atmosphärische Dichte, etwa beim Bummel über die Wiener Ringstraße. Heimtückisch seine Methode, den Leser nicht nur zum Zeitzeugen, sondern auch zum Mitwisser zu machen. Denn stets steckt da einer, der seiner Klientel doch einen Tick voraus ist.

John Wray. Das Geheimnis der verlorenen Zeit. Rowohlt, 736 Seiten, 27,80 Euro.
John Wray. Das Geheimnis der verlorenen Zeit. Rowohlt, 736 Seiten, 27,80 Euro. © KK

Keineswegs zuletzt genial ist John Wrays Gabe, seinem ausgeklügelten Spiel mit dem Zeitstrom immer wieder auch Leichtigkeit und Ironie zu verleihen. Reichlich Anlass dafür bietet der Vater des Erzählers, der sich als mittelmäßig erfolgreicher Science-Fiction-Autor durch das Leben schlägt.

Natürlich betritt der Autor mit seinem epochalen Wunderwerk kein Neuland. Goethe schickte seinen Faust auf Zeitreise, der Ire Charles Robert Maturin entließ seinen Melmoth auf schauderliche Wanderschaft, auch Borges oder Lem sind auf diesem Terrain souverän vertreten. Dennoch gelingt es Wray, ganz eigene, magische Erzähltöne anzuschlagen, mit wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnissen von Einstein bis Heisenberg im Gepäck. Und mit einem klaren Ziel vor Augen – schlüssig nachzuweisen, dass es keinerlei verbindlichen Maßstäbe, keine unverrückbaren Regeln und Wahrheiten gibt, sondern, jenseits der gesellschaftlichen Scheuklapprigkeit, ein Universum, im dem alles gleich möglich und alles gleich unwesentlich ist.

Die spekulative, fälschlich in Richtung Marcel Proust führende Übersetzung des Originaltitels „The Lost Time Accidents“, der ja eher einen Zusammenprall signalisiert – ach, hol’s der Kuckuck samt seiner Uhr! Was hier vorliegt, ist eine mehrdimensionale, traumwandlerisch sicher aufbereitete Geschichte, die, Wunder der Erzählphysik, nur zwei Dimensionen besitzt: enorm viel Breite und Tiefe, aber keinerlei Längen.

Lesungen: John Wray liest aus dem neuen Roman.
10. Oktober, 19 Uhr, Hauptbücherei der Büchereien, 1070 Wien.
11. Oktober, 19.30 Uhr, Literaturhaus Graz.
12. Oktober, 19.30 Uhr, Musilhaus Klagenfurt.
15. Oktober, 19.30 Uhr, Kulturwirtshaus „Weißer Wolf“, Friesach.
johnwray.net