Die Wohnung, in der Nesreen Zaza in Damaskus lebte, war schön und groß. Ihre drei Kinder hatte ein eigenes Zimmer und es gab einen kleinen Garten. „Der Garten fehlt mir besonders“, sagt sie, auf dem gelben Sofa in der Wohnung in Graz Eggenberg. In Damaskus lebte sie im Stadtteil Zamalka – nie hätte sie wo anders wohnen wollen, aber dann begannen die Probleme. „Man war entweder für Baschar oder gegen Baschar“, sagt sie und meint den syrischen Machthaber al-Assad. Ihre Familie lebte besonders gefährlich, denn im Kleinen bildet sie die komplexen Allianzen im syrischen Krieg ab.

In Todesgefahr

Nesreen und ihr Ehemann Ammar sind Moslems. Doch Ammar ist ein shiitischer Alawit, Nesreen eine sunnitische Muslimin. Ammar gehört zur selben Religionsgemeinschaft wie Machthaber Assad, Nesreen zu jener der Opposition. „Ich bin verheiratet seit ich 18 Jahre alt bin“, sagt Nesreen. „Früher hat es niemanden interessiert, welche Religion wir hatten.“ Doch erst seit diese „crazy Männer“, so nennt Nesreen den IS, die in Syrien wüten, brachte ihre Ehe sie in Todesgefahr.

Diese Nacht werde sie nie vergessen, sagt Nesreen. Sie und ihre Familie hatten bereits geschlafen, als sie eine Frau direkt vor ihrem Fenster „Hilfe! Hilfe!“ schreien hörten. IS-Männer waren in das Haus einer Alawiten-Familie, so wie Nesreens gekommen, die im Nachbarhaus wohnten. Ein Mann, eine Frau, ein Sohn. Sie zerrten die Frau in Unterwäsche nach draußen, sie töteten den Mann und verschleppten die Frau. „Du bist Alawit wie Baschar? Du musst sterben“ So beschreibt Nesreen das Regelwerk, das mit IS Einzug gehalten hatte. In der Früh um sechs Uhr verließ Nesreen mit ihrer Familie das Haus und floh zu ihrer Schwester in einen anderen Stadtteil. Ihr Haus sollte sie nie wieder sehen, es wurde von einer Bombe zerstört.

„Für die Kinder war es besonders schlimm“, sagt Nesreen und streicht ihrer jüngsten Tochter Baraah über die langen dunklen Locken. Sie war zehn Jahre alt. „So klein“, sagt Nesreen in arabisch gefärbtem Deutsch. Ihr Sohn Yazaz, 17, hätte sich entscheiden müssen: für Baschar oder gegen ihn. Das Leben in Damaskus wurde immer schwieriger: Die Schulen waren zwar nicht geschlossen, doch keiner ging hin. „Wie kann ich meine Kinder in die Schule schicken, während draußen geschossen wird?“, fragt Nesreen. „Wir mussten etwas unternehmen“, sagt Nesreen. „Aber es ist nicht einfach hierher zu kommen.“

Start der Reise

Im August 2014 wird der Plan konkret: Nesreen will nach Europa flüchten. Zuerst wollte ihr Mann gehen, doch Nesreen sagte: „Nein, du kannst zumindest versuchen zu arbeiten. Ich kann hier nichts tun.“ Mit ihrem Bruder und zwei Freunden von ihm startete sie die „Reise“, wie sie es nennt.

Nesreen Zaza
Nesreen Zaza © Simon Möstl

Von Syrien in den Libanon, vom Libanon nach Algerien, weiter nach Lybien bis ans Mittelmeer. Sie saß 20 Stunden in einem LKW, ohne auf die Toilette gehen zu können. Sie schlief in einer Hütte, „für Tiere“, sagt sie. Sie trug zwei Hosen, zwei Pullover, eine Jacke und all ihre Papiere immer am Körper, falls ihre Tasche verloren ginge.

Plötzlich hieß es: "Wir sind da". Mitten in der lybischen Einöde. Auf die Frage, „Warum sind wir hier?“ bekam Nesreen keine Antwort. Sie blieben in einem halbfertigen Haus, immer mehr Menschen kommen. Am Ende waren es 400 - „fast nur Männer und zehn Frauen“, sagt Nesreen. Die Männer, die sie hierher gebracht hatten, betranken sich, rauchten Haschisch, schossen mit ihren Pistolen herum, drohten alle umzubringen. 1000 Dollar hatte Nesreen bezahlt um mit dem Boot nach Europa zu kommen. Doch dieses Geld war weg, der Mittelsmann damit verschwunden.

„Ich möchte diese Zeit gerne vergessen, doch es wird nicht gehen“, sagt Nesreen. Sie spricht von der Zeit als ihre Reise endlich weiterging, hinaus auf das Meer. Viele Menschen warteten am Strand, es war zwei Uhr in der Früh. Mit Stöcken wurden sie zu den Booten getrieben, „wie Tiere“, sagt Nesreen. Ein kleines Boot bringt sie zum größeren Boot, das auf dem Meer vor Anker liegt. Elf Stunden dauert diese Prozedur, bis alle Menschen "eingeladen" sind.

Das Boot war für 250 Menschen gebaut. „Weißt du wie viele Menschen darauf waren?“, fragt Nesreen. Und antwortet selbst: 900. Als die Sonne aufgeht, wird es sehr heiß, viele werden ohnmächtig. Niemand durfte sich bewegen, denn wenn auf einer Seite ein Übergewicht entstünde, würde das Boot umkippen. „Ich konnte nicht verstehen, warum Menschen auf der Flucht starben“, sagt Nesreen. „Doch als ich selbst in dem Boot saß, verstand ich.“


Gegenüber von Nesreen saß eine Frau mit einem Mädchen im Arm. Es war etwa gleich alt wie Nesreens jüngste Tochter Baraah. Dieses Mädchen bewegt sich nicht mehr, ihre Mutter beginnt zu weinen und zu schreien, „Bitte, wach auf!“ Nesreen weiß nicht mehr, wie sie sich durch die Menschen zu der Frau durchgekommen ist, aber sie nimmt das Mädchen aus den Armen der Mutter. „Ich hatte keine Ahnung, was ich tue. Doch ich habe es einfach gemacht“, sagt sie, und zeigt wie sie mit beiden Händen auf den Brustkorb des leblosen Mädchens drückte und in ihren Mund atmete. „Plötzlich hat sich das Mädchen wieder bewegt.“

Fünf Stunden in der Dusche

Lampedusa, Catania, Mailand. Mit dem Bus und mit dem Zug. Die letzte Dusche hatte Nesreen in Libyen gesehen, ihr größter Wunsch war daher, in ein Hotel zu gehen. Ihre Kleidung und Haare waren mit Benzin getränkt. In Mailand gingen sie in ein Hotel, ein Freund hat das Geld und bezahlt. „Fünf Stunden stand ich in der Dusche“, sagt Nesreen und kann heute darüber lachen.

Warum sie nach Österreich wollte, weiß sie nicht. Es war ein Gefühl, in ihrem Herz. Am 7. September 2014 kam sie in Wien an. Genau einen Monat nach dem Beginn ihrer Flucht. Sie klopfte an einer Polizeistelle an und sagte „Ich komme aus Syrien, ich möchte in Österreich bleiben.“ Sie kommt in eine Zelle, denn es ist Wochenende, sie kennt sich nicht aus, sie weint, sie hat Fieber, weil sie an einer Grippe leidet. „Ich habe doch nichts getan, wieso muss ich ins Gefängnis?“, fragt Nesreen.

Nichts passiert

Fünf Tage ist Nesreen in Traiskirchen. „Kein guter Ort“, sagt sie. Danach geht es nach Simmering, wo sie zweieinhalb Monate bleibt. „Ohne dass irgendetwas passiert“, sagt Nesreen. Keine Interview, keine Papiere zu erledigen. Um die Zeit zu vertreiben, fängt sie an, im Hotel, in dem sie untergebracht sind, zu putzen. „Ich will arbeiten, ich will nicht nichts tun.“ In Bruck an der Mur schläft sie in einer Schule für einen Monat, mit 70 Männern und zwei Frauen.

„Ich habe so viele gute Menschen hier kennen gelernt“, sagt Nesreen. Der Pfarrer in Tobelbad, wo sie wohnte, neue Freunde wie Annie und Franz, Erna und Ulli, der Mann, der ihr das Sofa, das sie eigentlich kaufen wollte, schenkte. Aber es gab auch andere: Nesreen hatte schon einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung. Doch dann rief die Vermieterin an und sagt, sie könne die Wohnung nicht haben, ihr Mann sei dagegen. „Ich habe gefragt, warum? Ich bin doch nicht gefährlich, ich bin nicht IS. Ich bin nur eine Frau, die eine Bleibe für ihre Familie sucht.“

Ein Jahr und zwei Monate. So lange waren Nesreen und ihre Kinder getrennt von einander. „Ich war hier im Frieden und meine Kinder lebten in größter Gefahr“, sagt Nesreen. Für eine Mutter sei das der Horror. Doch dann kam der 10. Oktober und Nesreen stand am Flughafen in Wien, um ihre Familie zu empfangen. Sie lief auf und ab, immer nur auf und ab. „Die halbe Stunde bis meine Familie aus dem Flieger kam, fühlte sich wie tausend Jahre an“, sagt Nesreen.

„Ich bin gelaufen, ich wollte sie alle umarmen, aber ich hatte nur zwei Arme.“ Als sie am nächsten Tag mit ihrem Mann in der Küche Kaffee trank und ihre Tochter aus ihrem Zimmer kam und Guten Morgen sagte, fing sie wieder an zu weinen. „Ein Jahr und zwei Monate habe ich nur von diesem Moment geträumt.“ Was vor dem 10. Oktober passiert ist, sei nun nicht mehr wichtig für sie.

„Wenn man ganz von vorne beginnt, ist es nie einfach“, sagt Nesreen. Jetzt brauche sie Hilfe, aber sie und ihre Kinder lernen deutsch, sie will Arbeit finden. „Ich bin nicht gekommen, um Geld zu nehmen“, sagt Nesreen. In Syrien habe sie gelernt, dass man für Geld auch arbeiten muss. Jetzt brauche ich Hilfe, „Mein Land ist so schön, aber es hat jetzt ein Problem.“ Nie hätte sie Syrien verlassen, wäre dort nicht Krieg. „Wenn ich geblieben wäre, wären ich und meine Familie gestorben.“

„Hallo, ich heiße Baraah, ich komme aus Syrien, ich wohne in Graz und bin elf Jahre alt.“ Ganz schnell sagt Nesreens jüngste Tochter diese Worte auf und lacht danach breit. Baraah hat noch heute Angst. Angst, dass ihre Mama wieder weggehen könnte. „Bevor sie zum Deutschkurs geht fragt sie mich: Wenn ich zurück komme, bist du hier, ja?“, sagt Nesreen. Doch vor allem blickt sie nach vorne: Sie möchte bald arbeiten, vielleicht als Kosmetikerin. „Doch alle österreichischen Freunde lieben mein Essen und sagen, ich soll ein Restaurant machen“, sagt Nesreen und lacht.