Sie trotzte der Erderwärmung über Jahrzehnte hinweg: Die Antarktis galt unter Klimaforschern lange als weitgehend stabil. Was der Klimawandel auf der Westseite abschmelzen ließ, wuchs an anderen Stellen im Osten durch verstärkten Schneefall zu. Rund um die Jahrtausendwende hat dieses Gleichgewicht Schlagseite bekommen. Der größte Eisvorrat des Planeten beginnt sich durch die immer stärkere Erwärmung zu dezimieren und sich ins Meer zu ergießen.

Jener 5800 Quadratkilometer große Eisberg, der sich zu Wochenbeginn vom Larsen-Schelf in der Westantarktis gelöst hat, könnte nur einer von vielen noch folgenden großen Abbrüchen gewesen sein. Solche sind an sich zwar nicht ungewöhnlich, dürften sich durch die Erderwärmung künftig aber häufen. Oder, wie es der Klimaforscher Mojib Latif vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel im Gespräch mit der Kleinen Zeitung formuliert: „Wir haben mit der Antarktis einen schlafenden Riesen geweckt. Mit der Ruhe dort ist es jetzt vorbei.“ Schmilzt das Schelfeis weiter ab, rechnet der Forscher mit einem Meeresspiegelanstieg von ein bis zwei Metern bis zum Ende des Jahrhunderts (siehe Interview unten).

Schmelzprozess beschleunigt sich

Das bis zu 500 Meter dicke Schelfeis schwimmt der antarktischen Landfläche vorgelagert im Meer und ist mit den Landgletschern verbunden. Satellitenaufnahmen der Europäischen Raumfahrtbehörde ESA haben ergeben, dass sich diese Eisflächen zwischen 1994 und 2003 kaum dezimiert, in den zehn Jahren danach aber 18 Prozent ihrer Masse verloren haben. Das Problem: Löst sich das Schelfeis an den Rändern der Antarktis auf, können sich die Landgletscher quasi barrierefrei ins Meer verteilen.

Auch der grönländische Eispanzer, der immerhin zehn Prozent der globalen Landeisbedeckung ausmacht, ist im Schwinden begriffen – und zwar schneller, als die ursprünglichen Modellrechnungen der Klimaforscher nahegelegt hätten. Pro Jahr beträgt der Eisverlust derzeit 100 bis 150 Kubikkilometer. Mit dieser Menge ließe sich ein Land wie Deutschland drei Jahre lang mit Trinkwasser versorgen. Bis Grönlands Eis ganz verschwindet, wird es zwar Jahrhunderte dauern. Am beschleunigten Abschmelzprozess ändert das aber nichts.

3 Millimeter pro Jahr

Das grönländische und antarktische Eis sowie das sich erwärmungsbedingt ausdehnende Meereswasser sind die drei Hauptantriebsfedern für den Anstieg des Meeresspiegels. Vor zwei Jahren haben US-Forscher sämtliche Messdaten neu ausgewertet und zutage gefördert, dass der Meeresspiegel zwischen 1901 und 1990 jährlich um etwa 1,2 Millimeter gestiegen ist. Zwischen 1993 und 2010 kamen die Wissenschaftler bereits auf einen jährlichen Anstieg von 3 Millimetern. Seit Beginn der vorigen Jahrhunderts hat sich der Meeresspiegel um rund 20 Zentimeter angehoben.

Dieser sich beschleunigende Effekt hat beunruhigende Folgen für Küstengegenden. Erwärmt sich das Klima um vier Grad, wären 470 bis 760 Millionen Menschen in Küstenregionen gefährdet, ergab ein Report der US-Forschungsorganisation Climate Central. Gelingt es, wie in den Pariser Zielen vorgesehen, den Temperaturanstieg auf unter 2 Grad zu halten, wären immer noch 130 Millionen Bewohner gefährdet. Am stärksten getroffen würden Millionenstädte wie Shanghai, Hongkong oder Mumbai.

Mojib Latif, Klimaforscher am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel
Mojib Latif, Klimaforscher am Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel © Josef Summerer